Christian Kracht

Iskender Yediler und die tatarische Tür

Eines Tages, vor vielen Jahren, schellte es an der Tür meines Hauses in Bangkok. Ich mache auf und dort stand ein Mann, dessen Alter und Herkunft schwer einzuschätzen war. Er sagte, sein Name sei Iskender und er wolle nun bei uns wohnen, da er Künstler sei und hier in Bangkok zu tun habe. Ich bat ihn herein, er zog sich die Schuhe aus, berührte mit der Hand sanft den Rahmen unserer Haustür, verbeugte sich leicht, trat in die Küche und wir tranken zusammen mehrere Biere. Er wusste zu erzählen, ja, von einem kam er ins tausendste; er stelle gerade mannshohe Fliegenpilze aus Fiberglas her, eigentlich sei er Tatare, aus einem Stamm, der nun wieder in der Krim ansässig war, in der Ukraine. Stalin habe damals alle Familien zwangsdeportiert, nun kehrten nach der Auflösung der Sowjetunion die Tataren zurück.

Dorthin wolle er nun bald endlich zurückreisen, zu seiner Familie, die er nie gekannt habe und zu seinen Vorfahren, um über Türen nachzudenken, tatarische Türen, um mit Türen zu arbeiten.
Yediler ist zurückgefahren, in ein Land, das ihn zurückgenommen hat. Mit jungen Künstlern in Simferopol zusammenarbeitend, hat er sich mit ihnen die tatarische Tür vorgenommen, ein prächtiges, historisches, anonymes Kunstwerk, das wohl wie in keinem anderen Land der Welt, eine weit mehr als tausendjährige Tradition in nuce darstellt; Dekoration, Alltagsgegenstand, Chiffre und Symbol zugleich.

Iskender Yedilers Arbeiten haben etwas ausgesprochen schamanistisches, dennoch, oder gerade deshalb wählt er sein Subjekt nach formalen Kompositionskriterien aus, danach, wie etwas aussieht und nicht danach, was es aussagt. Während seine Schöpfungen wie eine Tür zu seiner türkisch-deutsch-tatarischen Herkunft erscheinen, besinnt sich sein Wirken darauf, die unsichtbare Membran, die durch die Türen zu anderen Welten führt, zu durchtrennen.

Geschult an Beuys (der nach seinem Flugzeugabsturz auf der Krim durch Tataren gerettet wurde, indem sie ihn in Filz und Fett einwickelten) und im weiteren Sinne auch an Kippenberger, ist Yediler nicht zuletzt ein grosser Humorist, ein Ausgewanderter, ein Nomade, ein Nichtsesshafter, ein Wanderer zwischen den Welten.

Yedilers Kunst zu verstehen, bedeutet, durch Türen zu gehen – er verlangt von uns nicht weniger als eine Öffnung, ein Sichtbarmachen, ein Hereinlassen. Seine Arbeit in Simferopol kann als Re-Individualisierungs-Prozess verstanden werden, als ein zurückgeben von etwas Verlorengeglaubtem, dass vor dem Hintergrund seiner eigenen, Yedilers Geschichte, der Welt – und der Kunst, die sich schon darin befindet – einen Sinn zurückgibt.

In den Türrahmen Tataristans hängen Ketten, die „Zincirli Kapu“ – will man durch die Haustüre in ein Gebäude eintreten, so muss man sich unweigerlich verbeugen. Man senkt den Kopf, zieht die Schultern ein – erst dann kann man eintreten, wenn man sich selbst mit einer kleinen, alltäglichen Geste erniedrigt hat. Dieser Respekt gebührt Iskender Bey.

Christian Kracht
Bangkok, 10. März 2005