Jeff Wall
Frei wie der Wind
“Frei wie der Wind”, sagt das Sprichwort. In gewisser Weise trifft dieser Gedanke auf Iskender Yediler’s aufblasbare Skulpturen zu. Yediler behauptet, daß er anfing, ‘Inflatables’ herzustellen, weil er nicht genügend Lagerraum hatte und die aufblasbaren Skulpturen ihm eine Lösung für dieses Problem boten. Ich habe diese Bemerkung insofern als wahr gedeutet, als sie in jener leicht hämischen, selbst-ironischen spezifisch Kölner Art formuliert wurde, die in den Kreisen um Martin Kippenberger so verbreitet war.
Yediler gehörte zu diesem Umfeld und damit auch zu Deutschland, ohne jedoch ein Deutscher zu sein. Wenn die Luft nicht von Natur aus frei wäre, gäbe es sicherlich nationale, regionale und örtliche Lüfte. Auf gewisse Weise gibt es sie tatsächlich, weil Gerüche in der Luft deutlich von dem betreffenden Ort künden. Aber lokale Gerüche, wie der Gestank der Chemiefabriken am Rhein, werden gnädig im Strom der Atmosphäre aufgelöst, die sich ohne Unterlaß um die Welt bewegt und die Verunreinigungen, die ihr andauernd vom Boden aufgezwungen werden, aufnimmt und zerstreut.
Es ist uninteressant, die Vorgänger der aufblasbaren Skulpturen zu benennen, außer vielleicht um festzustellen, daß sie ihren Ursprung vor allem in den 60er Jahren hatten, in einem polymorph-perversen Gefühl für Amüsement, Leichtigkeit und Freizügigkeit. Diese durchgängige Tradition der spielerischen Übertreibung kennzeichnet die Köln-Düsseldorfer Kunst von Polke über Kippenberger bis hin zu den jüngsten Generationen. Die skeptische Haltung, die zweifelnde Haltung, die Unsicherheit und die Zweifel den eigenen Status als Künstler betreffend, scheint zu den dauerhaftesten Schöpfungen mit weltweiter Bedeutung dieser Szene zu zählen.
Der Skeptizismus war eine Reaktion auf die allgegenwärtige Atmosphäre einer konservativen Ernsthaftigkeit, die die 40er und 50er Jahre im Deutschland des Wiederaufbaus kennzeichnet. Es war die Atmosphäre der Heideggerianischen Ontologie und der konservativen kulturellen Institutionen. Die Revolten der 60er führten zu einer Stimmung des Widerstreits, was die Künstler zur Selbstreflexion zwang. Skeptizismus wird oft als französische Schöpfung angesehen, als eine jener zersetzenden Substanzen, die seit 1730 Gemeinschaften in Individuen auflösten, welche fortan für ihr Verhalten selbst verantwortlich waren. Dieses Problem war seit der Französischen Revolution ein Hauptstreitpunkt im deutschen Denken und der deutschen Literatur. Es gibt viele Gründe, warum das Rheinland in jener Zeit ein fruchtbarer Boden für diese Gedanken wurde.
Doch kann ich an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß dieses Gedankengut ein entscheidender Faktor im Prozeß der Formung kultureller Eigenarten und künstlerischer Ziele war. Skeptizismus und Unvoreingenommenheit sind kosmopolitische Wesenszüge, Kennzeichen von Bürgern, die von ihrer ursprünglichen Heimat fort in eine Großstadt gezogen sind, sich mit anderen Neuankömmlingen mischen, ihre Identitäten und Ziele neu überdenken und neu entwerfen. Köln-Düsseldorf ist ein regionales Zentrum, kein nationales. Aber dennoch ist diese Region seit einigen Generationen eine bedeutende Kunstlandschaft. In der Verbindung von lokalen mit nationalen, ja sogar mit globalen künstlerischen Strömungen könnte man in gewisser Weise eine Erklärung für den gekünstelten und übertriebenen Wesenszug spielerischer Ironie der rheinischen Kunst sehen, für ihre Aggression und ihre kritischen Haltung.
Provinzielle gesellschaftliche Bedingungen zwingen weltoffene Menschen oftmals dazu, ihre weltoffenen Züge zu übertreiben, damit diese erkannt und akzeptiert werden können. Dies erzeugt eine inhärente Komik. Yedilers aufblasbare Skulpturen besitzen diese Komik, insbesondere in der Art und Weise, in der sie in regelmäßigen Abständen von Staubsaugern oder Föns aufgeblasen werden und wieder in sich zusammensinken. Neben seinen aufblasbaren Skulpturen stellt Yediler auch Holzskulpturen her, die meist stark vergrößerte Details von alten religiösen Statuen darstellen. Holz und Stein zählen zusammen mit Ton zu den ursprünglichen Materialien der Bildhauerkunst. Sie werden immer eine Atmosphäre des im Boden Verwurzeltseins verbreiten, so wie Metall uns an die Minen erinnert, aus deren Tiefen das Erz ans Tageslicht tritt. Zunächst sollte man annehmen, daß Minen- und Forstarbeiter Einwohner der Gegenden sind, in denen sie leben.
Aber historisch betrachtet sind sie genauso oft Fremde gewesen, die, um stumpfsinnige Arbeit zu verrichten, angeworben oder von der dafür offerierten Belohnung angezogen wurden. In unserem Jahrhundert sind das Holz der Wälder und die Erze der Minen nicht mehr wirklich mit ihrem Ursprungsort verbunden; sie werden sofort auf den Weltmarkt überführt und dorthin versandt, wo sie gekauft werden: hunderttausend Barren russischen Aluminiums stehen auf den Docks von Rotterdam; Fichten aus British Columbia werden auf dem Grund überfrierender japanischer Seen gelagert. Ein Barren ist ein Wanderer. Von daher kann man nicht einfach behaupten, daß Yedilers aufblasbare Skulpturen mit der strömenden Luft zu tun haben und seine Holzskulpturen mit den Bäumen eines bestimmten Ortes. Man kann aber behaupten, daß beide Arten von Skulpturen eine Verbindung mit Dingen haben, die auf irgendeine Weise durch die Städte driften. Insofern scheint der Künstler Yediler daran interessiert, jene Atmosphäre von Authentizität zu vermeiden, welche Dinge umgibt, die ihre Ursprünglichkeit betonen. Vielleicht, weil Yediler einer dieser quasi staatenlosen Einwohner von Deutschland ist.
Als Sohn tatarischer Eltern, wuchs er als Kind in der Türkei auf und verbrachte den größten Teil seines Lebens in München und Köln. Die Vermeidung dieser Form von Ursprünglichkeit ist verwurzelt in einer Kritik an Authentizität, die in Europa und Deutschland unterschiedliche Formen angenommen hat. So ist es beispielsweise wichtig, daß Michelangelos Statuen aus dem weißen Marmor von Carrara hergestellt wurden. Im 15. Jahrhundert reisten die meisten Leute
nicht viel und die regionale Eigenart der Kunst spiegelte den begrenzten Bereich der ortsansässigen Adelskultur.
Als Rom oder Florenz zu kulturellen Zentren wurden, erhielten die ortstypischen Materialen, die verwendet wurden, eine umfassendere Konotation. Neuankömmlinge erfuhren sie als Ausdruck der zentralen Bedeutung des Ortes, der sie magnetisch angezogen hatte. Michelangelos Renaissancestatuen machten das strahlende Weiß ihres Marmors zum universalen Kennzeichen der Bildhauerei und trugen außerdem dazu bei, die antike Skulptur aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Ein Kunstzentrum ist ein begrenzter Bereich, von dem jedermann angezogen wird. In diesem Prozess werden die Sehenswürdigkeiten eines Ortes zu Zeichen für dasjenige, was uns anzieht. Wie die Palmen von Hollywood werden sie zu globalen Ikonen aufgeblasen. Sie verlieren ihren beschränkten, örtlichen, privaten Zauber. Sie verlieren ihren geheimnisvollen Reiz zugunsten der Aura eines zeitlosen Kunstwerks, der Aura von Kultur oder der Aura von künstlerischer Bedeutung.
Ihre neue Bedeutung wird bestimmt durch ihre Fähigkeit, überall und nirgends zu sein. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde jede Art von lokaler oder natürlicher Mystik künstlich erzeugt, als Beispiel dafür kann Kandinskys Rückzug nach Murnau angeführt werden. Die Anziehungskraft der großen Städte war so immens, daß einige Künstler das Gefühl hatten, sich davon lösen zu müssen. Nur an anderen Orten schien es ihnen möglich, Bedeutungen wiederentdecken zu können. Sie bemühten sich, ihre Kunst der lokalen künstlerischen Tradition anzugleichen, die ihnen besonders und einzigartig erschien. Das Problem war allerdings, daß zu jener Zeit immer mehr lokale Produkte hergestellt wurden, um entfernte Konsumenten zu versorgen. Durch ihren Rückzug bewiesen die Künstler nur, daß es keine lokale Produktion mehr gab, oder zumindest, daß diese nur wegen des historisch gewandelten Verhältnisses ihres Herkunftsortes zum Zentrum existierte, an das sie unvermeidlich immer öfter versandt wurden.
“Authentisch” war ein Wort, das man am häufigsten als Paketaufdruck sah. Yedilers Holzskulpturen stellen meistens Teilstücke alter Statuen dar, die gegenüber ihrem ursprünglichen Format um ein Vielfaches vergrößert wurden. Diese Fragmente verkörpern Attribute der Orignalfigur und beschreiben ausschnitthaft ihre Bedeutung innerhalb der christlichen Ikonographie. Das ins Gigantische vergrößerte Detail veranlaßt den Betrachter, sich die Größe der Statue vorzustellen, die offensichtlich einmal existiert hat. Dennoch vermuten wir gleichzeitig, daß diese große Skulptur ein Produkt von Yedilers Phantasie oder sogar Teil seiner künstlerischen Strategie ist.
Wir spüren, daß Yediler vorgeht, wie viele andere Künstler, wenn sie etwas aus seinem ursprünglichen Kontext herauslösen wollen – sie verändern entweder die Maße, das Material oder die Farbe. Yediler benutzt alle drei Methoden. Sein Ansatz ist kritisch und intellektuell. Er reflektiert insofern Geschichte, als er das Erlebnis einer Skulptur erzeugt, die viel größer zu sein scheint als der Betrachter. In seiner Vorstellung schrumpft dieser im Verhältnis zu der großen Hand oder dem großen Fuß auf ein sehr kleines Maß. Dieses Spiel mit menschlichen Proportionen scheint jenen historischen Ereignissen eine Form zu verleihen, die zwischen dem imaginären Augenblick der Zerstörung der Originalskulptur und dem Augenblick – heute – stattgefunden haben, in dem der Betrachter das Fragment in einer Galerie
oder einem Museum sieht. Sind wir kleiner geworden? Wie hat Geschichte uns verändert? Oder, etwas nüchterner, sind Skulpturen im Lauf der Zeit kleiner geworden und warum? Wie haben wir uns so weit von diesen großen Ikonen entfernt und was hat sie in Stücke zerschmettert?
Was auch immer es war, es war vernichtend und es sieht so aus, als ob die Einzelteile überall verstreut seien, da wir nur einen Teil der ursprünglichen Figur sehen können. Wenn sie in der Nähe wären, hätte man sie dann nicht für die Ausstellung eingesammelt? Die großen Holzstücke scheinen weit über den Horizont geschleudert worden zu sein; aus einem Wald heraus, in dem sie vielleicht ursprünglich hergestellt wurden. Der Zusammenhang, in dem wir sie sehen, ist nicht der eigentliche. Wir als Betrachter könnten diesen selbst dann nicht rekonstruieren, wenn wir das Symbol als vertrautes, christliches erkennen würden. Die Skulpturen sind “unbehaust”, sie sind nicht mit unserer Erfahrung unseres eigenen Ortes verbunden, mit unseren Wurzeln und unserer Herkunft. Die deutsche Mentalität identifiziert gerne den Lokalcharakter mit Authentizität. Vor allem in unserem vergehenden Jahrhundert wurde diesem Aspekt große Aufmerksamkeit zuteil. Sein Vermächtnis in Form der “deutschen Ontologie” ist heute selbst ein universeller, intellektueller Wert oder zumindest weltweit Gegenstand von wissenschaftlicher Diskussion und Analyse.
In der deutschen Kunst herrscht eine Phobie vor diesen ontologischen Fragestellungen. Künstler wie Anselm Kiefer haben diese Furcht enthüllt, indem sie sich selbst mit den Ängsten konfrontiert haben, die mit dieser Problematik einhergehen. So wurde die Anziehungskraft der deutschen Kultur und ihrer “welt-geschichtlichen Identität” am Ende des deutschen Wiederaufbaus neu erschaffen. Gleichzeitig haben viele deutsche Künstler die Sprache einer grundlegenden Ontologie zugunsten von Skeptizismus und Ironie abgelehnt. Diese Position ist sowohl deutsch, als auch kosmopolitisch. Sie ist ein Produkt der großen Städtekulturen des 20. Jahrhunderts: Berlin, Frankfurt oder Köln. Dieses Weltbürgertum wartet immer noch darauf, als besondere “deutsche” Qualität entdeckt zu werden, da es das Ergebnis einer Vermischung von einheimischen und fremden Impulsen darstellt. Yedilers Skulpturen sind auf diese Weise fremd und gleichzeitig originär, deutsch.
Jeff Wall, Februar 1999